Seit Jahren kehren wir zumeist im Juni in diese kulinarische Bastion zurück, die auch nach dem Tod des Großen Meisters nichts an Anziehungskraft eingebüßt hat. In aller Regel bildet ein Mittagessen bei Bocuse den gastronomischen Abschluss und Höhepunkt unserer kulinarischen Weinreise in das Rhônetal, am 8. Juni 2019 war es wieder einmal so weit. Wie üblich hatten wir einen großen Tisch im Salon Fernand Point reserviert, der sich gleich links vom Eingang in einer kleinen Rotonde befindet. Auf zahllosen Bildern kann man dort den wohlbeleibten Wirt des Restaurants Pyramide in Vienne bestaunen, der in besten Jahren bis zu hundertfünfund-sechzig Kilogramm gewogen und einen Bauchumfang von sagenhaften hundertneunundsechzig Zentimetern gehabt haben soll. Bei dem 1955 verstorbenen Point, der am Tag eine Magnumflasche Champagner getrunken haben soll, hatte Bocuse dereinst sechs Jahre in der Küche gearbeitet und war mit ihm bis zu seinem Tod eng befreundet. Dieser intime Salon fasst maximal 30 Personen und wir haben es in den vergangenen Jahren bereitwillig akzeptiert, dass neben unserer Tafel von zwölf bis fünfzehn Personen einige weitere Gäste an kleineren Tischen platziert waren. Dies ist vor allem deshalb unser bevorzugter Standort, weil man dort von der umtriebigen Geräuschkulisse des Restaurantbetriebs praktisch nichts mitbekommt.
In diesem Jahr war es anders: Am Vortag unseres Besuches meldete sich Francois Pipala, der langgediente Maître des Hauses Bocuse, telefonisch, um uns mitzuteilen, dass man kurzfristig die Anmeldung einer größeren Gesellschaft hereinbekommen habe, die den kompletten Salon Fernand Point beanspruche. Er bat uns, einen anderen Tisch in der so genannten „Galerie“ des Hauptrestaurants zu akzeptieren. Obschon nicht begeistert, willigten wir in das neue Placement ein, was wir allerdings nicht bedauern sollten. Abgetrennt durch eine kleine Brüstung lag unser Tisch in einem ruhigeren Teil des Restaurants, von wo aus unsere Tischgesellschaft einen schönen Ausblick auf das kulinarische Treiben hatte.
Ein Blick auf die Weinkarte offenbarte, dass der Champagner Grande Cuvée des Hauses Krug, Normalpreis dreihundert Euro, auf einer Sonderseite als spezielle Empfehlung des neuen Sommeliers zu zweihundertzwanzig Euro aufgeführt wurde. Für ein Dreisternehaus dürfte dies konkurrenzlos preiswert sein, was zur Bestellung von zwei Flacons führte, die sich in perfektem Zustand präsentierten. Corentin Caillard kam vor einem Jahr aus dem elsässischen Restaurant L´Arnsbourg in Baerenthal, wo Jean-Georges Klein bis zum Jahr 2015 mit drei Michelinsternen ausgezeichnet war, bevor er zwanzig Kilometer von Baerenthal entfernt das Restaurant Villa René Lalique eröffnete. Monsieur Pipala erschien an unserem Tisch und erkundigte sich nach dem gewünschten Garzeitpunkt des Fleischgerichts, acht Mal à point und drei Mal bleu, und zog mit seinem Bestellblock weiter zu einem anderen Tisch. Zum ersten Gang, Casolette de Homard à l’Armoricaine, wählten wir eine Magnum-Flasche Viré Clessé Jahrgang 2007 von Jean Thevenet. Diesen zartsüßen Chardonnay aus der Macon-Region haben wir mit Bedacht gewählt, denn zu der geschmacksintensiven Hummersuppe, in der aufgrund der vielen Hummerstücke der Löffel beinahe senkrecht stehen könnte, würde ein allzu trockener Wein mit hohem Säuregehalt kläglich scheitern.
Ein junger Commis-Sommelier öffnete die Flasche, die sich geschmacklich zwar als fehlerfrei erwies, jedoch fiel auf, dass in unseren Gläsern kleine „Korkfischlein“ schwammen. Dem Kellner war beim Öffnen der Flasche der Kork offenbar völlig zerbröselt und er hatte dann leider darauf verzichtet den Flascheninhalt beim Dekantieren durch ein Sieb zu gießen. Wir hatten uns kaum zugeprostet, da erschien Chef-Sommelier Caillard, der seinen jungen Kollegen aufgrund des offenkundigen Malheurs zur Seite nahm und sagte ihm einige deutliche Worte. Wenige Minuten später kam er mit zwei Flaschen des gleichen Erzeugers aus dem Jahr 2011 an unseren Tisch. Eine weitere Magnumflasche des Jahrgangs 2007 war offenbar nicht mehr vorhanden. Vergeblich versuchten wir, Monsieur Caillard davon abzuhalten, die Flaschen zu öffnen, zumal der dekantierte Wein völlig in Ordnung war, nachdem man die Korkteile aus den Gläsern gefischt hatte. Der Chefsommelier indes ließ sich dadurch nicht beeindrucken und öffnete die beiden neuen Flaschen.
Eine gute halbe Stunde später nahte der Hauptgang, Filet de Boeuf Rossini mit Sauce Périgueux. Genüsslich machten wir uns an den Verzehr des Rinderfilets, welches mit einer saftigen Scheibe Gänseleber belegt und einer wunderbaren Trüffelsauce übergossen war. Niemand hatte sich bislang zur Garkonsistenz seines Fleischstückes geäußert, bis Francois Pipala an den Tisch trat und sich nach der Zufriedenheit der Gäste erkundigte. Erst jetzt gab es vereinzelte Anmerkungen, weil die als rosa bestellten Fleischstücke ziemlich durchgegart geliefert wurden und man die als bleu gedachten Stücke allenfalls als à point bezeichnen konnte.
Monsieur Pipalas spontane Reaktion erinnerte an die seines Sommelier-Kollegen. Er wollte alle Teller neu zubereiten lassen und nahm mit seinem Handy einige Fotos von den Fleischstücken auf, um den Köchen beweisen zu können, dass die Garkonsistenz nicht der gewünschten Cuisson entsprach. Da wir aber bereits etwa die Hälfte unseres Fleischgerichts gegessen hatten und befürchteten, eine weitere komplette Portion nicht aufessen zu können, legten wir Einspruch ein. Vielmehr einigten wir uns mit Monsieur Pipala darauf, dass er insgesamt drei Portionen neu in Auftrag gibt, zwei à point und eine als bleu, um der Mannschaft um Küchenchef Christophe Müller die Gelegenheit zu geben, ihren handwerklichen Fehler zu korrigieren.
Was dann aus der Küche kam, war über jeden Zweifel erhaben, ebenso wie der dazu servierte Rotwein, ein 2015er Côte Rôtie Blonde du Seigneur von Georges Vernay.
Francois Pipala hatte uns bereits beim Nachservice des Entrecôtes diskret angekündigt, dass man uns nach dem Käsegang und vor dem eigentlichen Dessert noch etwas Besonderes servieren werde.
Das leckere Soufflé de Grand Marnier zählt zu den Klassikern im Hause Bocuse und verdiente allein schon einen Umweg. Es stand am Ende übrigens ebenso wenig auf der Rechnung wie die beiden zusätzlich geöffneten Flaschen Weißwein und die extra servierten Hauptgerichte. Dies betrachteten wir als überaus großzügige Geste alten Stils und werden im nächsten Jahr sehr gern wieder nach Collonges-au-Mont–d´Or zurückkommen; für den 6. Juni 2020 ist bereits ein Tisch reserviert, im Salon Fernand Point.