BORDEAUX 2009 – Ein Ruf wie Donnerhall

Bordeaux, Ende März 2010. Angelockt von der Nachricht, die Weinbarone an der Gironde hätten diesmal ganz bestimmt den besten Jahrgang aller Zeiten in ihren Fässern, pilgern rund 6.000 Fachbesucher aus Handel und Gastronomie sowie mehr als 200 Journalisten aus der ganzen Welt in den Südwesten Frankreichs. Jedoch konnte sich gerade mal die Hälfte davon bei der Union des Grands Crus, der Vereinigung der Bordelaiser Spitzenwinzer, für die „Semaine de Presse“ akkreditieren und damit den Vorzug separater Verkostungen und Unterbringung in den verschiedenen Schlössern genießen. Mit dreißig Weinnasen bildeten die Franzosen das größte Kontingent, gefolgt von sechzehn Engländern und elf Amerikanern. Auffallend war die große Anzahl von zehn Journalisten aus China, welche zunehmendes Interesse für edle Rotweine im Fernen Osten signalisiert.  

Nach drei Tagen ausgiebiger Verkostungen während der „Grands Jours de Bourgogne“ mache ich mich in Dijon am Samstagmorgen auf den Weg nach Bordeaux. Dort warten die mit großen Vorschußlorbeeren bedachten Weine des Jahrgangs 2009. Bei allen Strapazen, die solche Verkostungen mit sich bringen,  verspüre ich so etwas wie Vorfreude und gespanntes Interesse, ob die Weine tatsächlich besser sein sollten als legendäre Jahrgänge wie 1982, 2000 und 2005. Gut sieben Stunden dauert die erwartungsvolle Fahrt quer durch Frankreich; genügend Zeit, um die Eindrücke der vergangenen Tage Revue passieren zu lassen und die Geschmacksknospen so langsam von Chardonnay und Pinot Noir auf Cabernet Sauvignon und Merlot umzustellen. Doch die Zeit drängt schon wieder, denn bis 18.00 Uhr sollte ich in Saint-Emilion eintreffen, um den Schlüssel für La Mondotte abzuholen, wo ich die ersten drei Nächte untergebracht bin.

Mit lässig um die Schulter gebundenem Pullover öffnet mir Stefan Neipperg die Tür. Den aus dem schwäbischen Schwaigern stammenden Grafen kenne ich seit 25 Jahren, als er das von seinem Vater gekaufte Château Canon-La-Gaffelière aus dem Dornröschenschlaf wach küsste. Wir begrüßen uns herzlich, trinken ein Glas Champagner und sprechen über dies und das. Sehr präzise wird Stephan allerdings, als die Sprache auf die Auswirkungen der weltweiten Wirtschaftskrise kommt: „Wer behauptet, er spüre davon nichts, der lügt!“ Vor allem in England und in den Vereinigten Staaten habe das Geschäft nachgelassen, gottlob habe Asien aber einiges davon kompensiert. Seine Frau Siegweis schaut diskret zur Uhr, es ist Zeit für den Aufbruch.

Zum Abendessen führt mich mein Weg ins „Envers du Decor“ in Saint-Emilion, ein erstklassiges Weinbistro mit herzhafter regionaler Küche und einer erstklassigen Weinkarte. Am Nachbartisch tagt schon eine weinselige Runde, in deren Mitte ich Francois Mauss erkenne. Der in Bordeaux lebende, umtriebige Luxemburger hat vor 15 Jahren eine international besetzte Verkostungsrunde mit dem imposanten Namen „Grand Jury Européen“ gegründet, der unter anderem auch die beiden Deutschen Markus del Monego und Otto Geisel angehören. Da wir uns von vielen gemeinsamen Verkostungen kennen, fragt Francois mich augenzwinkernd: „Was machst Du morgen, hast Du Lust mit uns zu Ausone, Pavie, Angélus und zu Michel Rolland und Stéphane Derenencourt zu kommen?“ Die Aussicht, bereits vor Beginn der eigentlichen Verkostungswoche einige der besten Weine ins Glas zu bekommen, lassen meine vagen Pläne für einen geruhsamen Sonntag schnell in Vergessenheit geraten. Ich sage also zu.

Der Sonntagmorgen beginnt mit einer Dehnungsübung des Gaumens auf Château Haut- Carles in Saillans oberhalb von Fronsac. Dort hat der so genannte Cercle de Rive Droite sein Quartier aufgeschlagen für die Presse-Vorstellung von etwa 80 Rotweinen vom rechten Ufer der Garonne, also aus Saint-Emilion, Pomerol und den darum gelegenen Orten. Der kalte Saal ist durch Vorhänge in zwei Hälften geteilt: Im linken Teil sitzen die Kollegen, die – aus welchen Gründen auch immer – blind verkosten möchten, im rechten Teil die anderen.

Obschon hier praktisch nur die zweite Garde der jeweiligen Appellation vertreten ist, wird bald klar, dass wir es bei den 2009er Weinen in der Tat mit außerordentlichen Qualitäten zu tun haben. Nie zuvor hatte ich etwa einen solch annähernd konzentrierten Rotwein von Château Barde-Haut aus Saint Emilion verkostet. Hervorragend präsentieren sich auch die Weine des gastgebenden Château Haut Carles und von Moulin-Pey-Labrie aus der benachbarten Appellation Canon-Fronsac. Ganz zu Schweigen von dem Schweizer Silvio Denz, dessen wunderbar nach Sandelholz duftender Peby-Faugéres eine meiner größten Entdeckungen dieser Woche sein sollte.

Nach einer kleinen Stärkung am kalten Büffet geht es zu der Verabredung mit der Grand Jury auf Château Ausone. Es ist erstaunlich genug, dass es Francois Mauss gelingt, Inhaber Alain Vauthier dazu zu bewegen, seine bunt zusammengewürfelte Verkostungstruppe am heiligen Sonntag zu empfangen, obendrein auf einer Riesenbaustelle, wo kein Stein auf dem anderen bleibt. Der 2009er Wein ist verdammt gut: Zwar buhlen Schwarzkirsche und Preiselbeere noch um die Vorherrschaft im Bukett, aber am Gaumen offenbart der Wein schon jetzt Struktur und große Finesse.

Die nächste Station ist Château Pavie, wo Inhaber Gérard Perse die Gäste begrüßt. In den ersten Jahren nach dem Kauf durch den Pariser Kaufmann führten die etwas zur Opulenz neigenden Weine zu einer heftigen Kontroverse in der internationalen Weinkritik. Auf der einen Seite der Amerikaner Robert Parker, dem man gern nachsagt, er habe eine ganze Generation von Weinmachern mit seiner Vorliebe für allzu üppige Tropfen zu einem Stilwandel veranlasst- weg von der Eleganz, hin zur Opulenz. Eine Stilistik, die nicht überall auf Gegenliebe stößt, etwa bei britischen Kollegen, die seit jeher den eleganteren Bordeaux-Typus bevorzugen. Die angesehene englische Weinautorin Jancis Robinson hielt mutig dagegen, als sie den 2003er von Château Pavie, einer von Parkers Lieblingsweinen, mit 12 von 20 möglichen Punkten regelrecht abkanzelte. Zwei Jahre später legte sie nochmals kräftig nach: Den 2005er Pavie bezeichnete sie als „überkonzentrierten Muskelprotz“ und stellte die süffisante Frage, wer davon, bitteschön, ein zweites Glas trinken möge? Der 2009er Pavie ist wieder ein sehr eindrucksvoller Wein, bei dem sich die geschmackliche Fülle und die seidigen Tannine womöglich eines Tages zu einer großartigen Symbiose vereinen werden.  „Der kann 50 Jahre und mehr reifen,“ fügt Gérard Perse hinzu. Wie wohl Jancis darüber denkt?

Zu Château Angélus sind es dann nur wenige Kilometer, wo Mitinhaber Hubert de Boüard die an diesem Tag auf 30 Nasen angewachsene Grand Jury bereits erwartet. Wie üblich beginnt die Verkostung im Proberaum auf der Beletage des Gutes mit den stets sehr guten Weinen von Lafleur de Boüard, einem 20 Hektar großen Gut in Lalande de Pomerol. Im Jahrgang 2009 ragt das kraftvollere Prestige-Cuvée „Le Plus de Boüard“ heraus. Einig sind sich dann nahezu alle Verkoster, dass der 09er Wein von Château Angélus eine großartige Karriere vor sich hat. Allerdings wird auch dieser tiefdunkle, mit Schwarzen Kirschen und viel neuem Holz beladene Wein etliche Jahre Geduld fordern, bis er seine optimale Trinkreife erreicht.

Den Besuch bei Michel Roland, übrigens auch ein langjähriger Freund von Robert Parker, kann man nur als Ereignis betrachten. Unweit von seinem weitläufigen Laborbetrieb in Maillet, empfängt uns der weltweit einflussreichste Oenologe in Privataudienz auf seinem Pomerol-Weingut Le Bon Pasteur. Flankiert von seiner gertenschlanken Frau Dany gibt sich der joviale Rolland bestens gelaunt und stellt den adrett gekleideten Schwiegersohn als „Dirécteur-Général“ von Rolland Collection vor. Die 2009er Weine sind von verlässlicher Güte, gewiss! Aber wieso schafft es der große Meister bloß nicht, ausgerechnet seinen eigenen Weinbergen interessantere Tropfen zu entlocken?

Gleich danach treffen wir Stéphane Derenencourt, der gewissermaßen das Neue Testament der oenologischen Weinberatung in Bordeaux verkörpert. Im Gegensatz zu Rolland versucht Stéphane stets einen eleganteren Weinstil herauszuarbeiten, etliche der von ihm betreuten Güter bearbeiten ihre Weinberge nach ökologischen Prinzipien. Anlässlich der Primeur-Woche versammelt er seine Kunden zu einer gemeinsamen Präsentation in Château La Gaffelière in Saint-Emilion versammelt. Drei Weine ragen an diesem Nachmittag heraus: Château Larcis-Ducasse ist sehr konzentriert im Duft, wirkt dabei aber sehr belebend und offenbart eine geradezu tänzerische Eleganz. Während das Bukett des Pavie-Macquin von einer feinen Sandelholzsüße hinterlegt ist und die Frucht eine perfekte Balance mit den Tanninen bildet, ist der Wein von Clos-Fourtet ein wahrer Wonneproppen, was Cassisfrucht und Schwarze Kirsche anbelangt.

Der Montagmorgen beginnt bei strahlendem Sonnenschein mit einer der wichtigsten Verkostungen der Primeur-Woche im Hause Jean-Pierre Moueix in Libourne, das einen Großteil des Geschäfts auf dem rechten Ufer kontrolliert, unter anderem seit 1964 auch die Distribution von Château Pétrus. Eskortiert von seinem Sohn Edouard empfängt Christian Moueix die Gäste höchstpersönlich und in feinem Zwirn. Obschon hier längst nicht jede Anfrage mit einem Termin bedacht wird, drängen sich die Verkoster dicht an dicht in dem holzvertäfelten Raum. Wo aber ist denn der Pétrus? Bislang stand er stets am Ende der Moueix-Kollektion, in diesem Jahr musste man sich erstmals um einen separaten Termin im Weingut bemühen, was längst nicht alle Weinnasen mitbekommen hatten. Oje! Auf Petrus werden die Besucher von Jean-Claude Berrouet, dem langjährigen Kellereidirektor des Gutes, und dessen Sohn und Nachfolger Olivier souverän über die Vorzüge des 2009ers aufgeklärt. „Ja, es wirklich ein toller Jahrgang“, sagt Vater Berrouet, der nach 45 Jahren nun den verdienten Ruhestand genießt und den Filius nur mehr berät. Der Wein ist, wie könnte es anders sein, grandios! Die schmeichelnde Süße bildet einen genüsslichen Kontrapunkt zu den feinwürzigen Tanninen. Ein Wein für die Schatzkammer!

Nur ein paar hundert Meter von Pétrus entfernt treffe ich Jacques Thienpont in Pomerol zur Kostprobe des Le Pin 2009. Vor 20 Jahren war der belgische Patron während der Primeur-Woche nur selten da und auch danach hatte man das Gefühl, dass er nur eine Handvoll ausgewählter Verkoster empfangen wollte. Diesmal ist alles anders: Gleich am Anfang des schmalen Feldweges weist ein kleines Schild „Degustation Le Pin“ in eine ungewohnte Richtung: Nicht zu jenem einfachen Bauernhaus, welches drei Jahrzehnte die Heimat des berühmtesten Garagenweins war, das nun abgerissen und durch einen spektakulären Neubau eines bekannten belgischen Architekten ersetzt werden soll. Stattdessen wird in einem improvisierten kleinen Kelterhaus verkostet, das Jacques für zwei Jahre als Ausweichquartier für die Vinifikation seiner superteuren Rotweine hergerichtet hat. Der 2009er Le Pin ist ein Musterbeispiel eines perfekten Merlots, bei dem sich die belebende Frische auf das Vorzüglichste mit den exotischen Fruchtkomponenten vermählt.

Am Montagabend steht mit dem so genannten „Dîner d´acceuil“ auf Château La Dominique das erste gesellschaftliche Ereignis für die ausgesuchte journalistische Fraktion an. Diese Veranstaltung ist ein wahrer Jahrmarkt der Eitelkeiten, der fast immer nach dem gleichen Muster abläuft. Die Winzer versuchen die vermeintlich wichtigsten Schreiber an ihren Tisch zu dirigieren, wo sie dann – sehr originell – aus der Vielzahl der bereitstehenden Flaschen ausgerechnet ihren eigenen Wein kredenzen. Der Service serviert vom Feinsten: Carpaccio von Jakobsmuscheln, Millefeuille von Kalbfleisch mit Steinpilztapenade und neben dem obligatorischen Käse natürlich auch ein üppiges Dessert. Wie auf Kommando erhebt sich die Gesellschaft um kurz nach zehn, weil es am nächsten Tag schon früh mit dem Verkosten los geht.

Während der Dienstagmorgen dunkle Regenwolken anzubieten hat, besteht für die Journalistenschar Gelegenheit, auf Château Cheval-Blanc den 2009er zu verkosten. Um diese Wortwahl richtig zu verstehen, muss man wissen, dass die Union des Grands Crus die Weine ihrer 132 Mitglieder in regionalen Verkostungen vorstellt. Da aber ausgerechnet die berühmtesten Güter dort fehlen, muss man sich außerhalb des offiziellen Programms um individuelle Besuchstermine auf den Schlössern bemühen, um die Weine vor Ort zu verproben.  Drei berühmte Güter indes nehmen in der Union den Sonderstatus als Ehrenmitglieder ein und bieten den Journalisten deshalb eine koordinierte Form der Verkostung an: Mouton-Rothschild, Yquem und eben Cheval-Blanc.

Keine Frage für mich, dass dies einer der besten Weine des Jahrgangs 2009 ist. Dieses Schmuckstück von einem Rotwein offenbart seidige Tannine und eine Extraktsüße, wie man sie nur aus den allerbesten Jahren kennt. Unwillkürlich fällt mir der legendäre 1947er Cheval-Blanc ein!

Aber nun geht die eigentliche Arbeit erst los: Die 120 Journalisten wurden in fünf Gruppen à 24 Verkoster eingeteilt und arbeiten sich in den nächsten Tagen nach einem ausgeklügelten System durch die verschiedenen Bordeaux-Regionen. Ich lande in Gruppe drei, zusammen mit einigen alten Bekannten wie dem ebenso gewichtigen wie gescheiten Peter Moser, Chefredakteur des österreichischen Falstaff-Magazins und Didier Ters, dem früheren Weinspezialisten der Zeitung Sud-Ouest, der jeden Morgen als letzter kommt und mit karierter Jacke durch die Verkostungshalle stolziert. Mit dabei sind auch Reva Singh, die elegante Herausgeberin eines Weinmagazin aus Neu Delhi und ihr in New York lebender Sohn Shiv sowie der junge Niko Dukan, ein schlacksiger, stets gut gelaunter Typ aus Zagreb.

Bei leichtem Regen geht es am Mittwochmorgen ins Médoc, wo die Cabernet-Sauvignon-Traube dominiert. Und 2009 soll ein ganz großes Cabernet-Jahr sein, wie Denis Dubourdieu anlässlich der Pressekonferenz der Universität von Bordeaux auf Château La Lagune versichert. Fünf Voraussetzungen seien vonnöten, doziert der Professor, um in Bordeaux wirklich große Rotweine zu erzeugen: Eine frühe und zügige Blüte, trockenes Wetter zum Fruchtschluss, sonnige Tage bei der Verfärbung der Trauben, warme und trockene Wochen im August und zu guter Letzt schönes Herbstwetter während der Lese. Obschon sich all diese Parameter 2009 auf beinahe ideale Weise ergänzten, ist dies für Dubourdieu aber noch keine Qualitätsgarantie. „Das Risiko ist in schönen Jahren sogar etwas größer, weil man in der Versuchung steht, die Lese allzu lange hinauszuzögern, vor allem, wenn der Nachbar noch nicht geerntet hat,“ sagt er verschmitzt. Die Fruchtausprägung hänge ganz entscheidend vom Erntezeitpunkt ab und im Jahr 2009 habe man durchaus auch gekochte Früchte ernten können. Spontan fallen mir bei diesen Worten einige zu fett geratene Merlots vom rechten Ufer ein, deren  Alkoholgehalt nicht wesentlich unter 15 Volumenprozent liegen dürfte. Überdies werde der Charakter der Tannine sehr vom Ausbau der Weine geprägt, weiß Dubourdieu, dem selbst zwei Weingüter gehören und der nebenher eine Vielzahl von Châteaux berät.

Für die weißen Trauben, insbesondere den Sauvignon Blanc, sei es hingegen fast etwas zu warm gewesen, um ihnen die Aromen und vor allem die Frische zu bewahren. Die perfekte Qualität vieler Sémillon-Trauben habe in der Sauternes-Region aber die Erzeugung außerordentlich guter edelsüßer Weine ermöglicht.

Davon konnte man sich gleich im Anschluss an die Pressekonferenz in der Opéra von Bordeaux überzeugen, wohin Château d´Yquem zur Präsentation des neuen Jahrgangs geladen hat, in standesgemäßer „Tenue de ville“. Im Parterre des Grand Théatre wird man von bildhübschen jungen Damen empfangen, deren schwarze Anzüge von einer goldgelben Schleife umschlungen sind. Sie geleiten die Gäste in den Salle Boireau im ersten Stock des imposanten Gebäudes. Die Vorfreude wächst! Inmitten des von vier riesigen Kristalllüstern beleuchteten Prunksaales, an dessen Decke berühmte Komponisten wie Beethoven, Gluck und Mozart verewigt sind, servieren Sommeliers mit weißen Handschuhen den neuen Jahrgang: „Welch eine seidige Fülle, gepaart mit edelster Botrytis, fast so elegant wie Eure Rieslinge in Deutschland,“ schwärmt Michel Bettane, Frankreichs berühmtester Weinkritiker. Und welch ein Unterschied zu dem ebenfalls ausgeschenkten 1989er Yquem, ein von zuviel Holz und Alkohol dominierter Wein, der eher schwermütig im Glase liegt.

In schier endlosen Wellen werden leckere Kleinigkeiten aus dem Repertoire des Pariser 3-Sterne-Kochs Yanninck Aleno (Le Meurice) aufgetragen, der sich persönlich die Ehre gibt: Gelée de Boeuf au Caviar, Mascarpone à la Truffe,  Hummerravioli mit Meeresfrüchtesauce, Röllchen vom Taschenkrebs und vieles mehr. Le Tout-Bordeaux schwelgt in vollen Zügen!

Am Donnerstag scheint endlich wieder die Sonne. Neben den Verkostungen der Union stehen heute die Premiers Crus des Médoc im Focus, sowie einige Super-Seconds des Médoc. Und nach Dubourdieus Vortrag ist die Erwartungshaltung nun besonders groß: Bei Château Mouton-Rothschild hat es Tradition, dass man die Journalisten die 400 Meter von der Vinothek zum Verkostungsraum mit Golfwägelchen gefahren wird, was etwas Unechtes, geradezu Inszeniertes in sich birgt. Zum ersten Mal seit 20 Jahren gefällt mir von den beiden ebenfalls zum Besitz zählenden 5ièmes Crus der Wein von Château d´Armailhac deutlich besser als Clerc Milon, der eine Spur zu alkoholisch daherkommt. Davon kann beim Mouton-Rothschild allerdings überhaupt nicht die Rede sein: Mit seiner breiten Aromenpalette zwischen Schwarzkirsche und Cassis und einem wohl strukturierten Körper weist der Wein ein beachtliches Entwicklungspotenzial auf.

Wegen Bauarbeiten im Château findet die Primeur-Verkostung von Lafite-Rothschild diesmal im Schwesterweingut Duhart-Milon-Rothschild im Ortskern von Pauillac statt. Der 2009er Lafite offenbart zunächst eine äußerst robuste Tanninstruktur, die sich am Gaumen dann allerdings in einer strahlenden Frucht auflöst.

Nirgendwo sonst wird in Bordeaux ein größeres Tamtam um den Einlass in das Allerheiligste gemacht als bei Château Latour. An der Zufahrt zum Gutsgelände befindet sich ein kleines Wärterhäuschen, worin ein bedauernswerter Mann sitzt. Er darf die Schranke erst dann öffnen, wenn er die Zahl der Autoinsassen mit derjenigen der ursprünglichen Anmeldung abgeglichen hat. Fehlt nur noch, dass man beim nächsten Mal den Personalausweis vorlegen muss! Gottlob hat dieses Geplänkel absolut nichts mit der Qualität des Weines zu tun. Beim 2009er von Château Latour ergänzen sich die reifen Tannine und eine geradezu überschwängliche Frucht zu einer Symbiose, die man in Bordeaux gern als „Eiserne Faust im samtenen Handschuh“ bezeichnet. An genau diesen Wein mag Professor Dubourdieu gedacht haben, als er von einem traumhaften Jahrgang für Cabernet-Sauvignon gesprochen hat.

Von Pauillac aus ist es nur einen Katzensprung zu Château Cos d´Estournel, welches auf einem kleinen Hügel oberhalb von Lafite liegt. Nach zweijähriger Umbauphase präsentiert Cos erstmals seinen neuen Verkostungsraum, von wo aus man einen spektakulären Ausblick auf die kubischen Tanks des neuen Gärkellers hat. Selten zuvor habe ich hier einen besseren Wein als 2009 verkostet, der vor Kraft nur so strotzt, aber vor allem große Finesse vermittelt. 

Wie bei vielen anderen Weingütern im Bordelais beherrscht auch auf Château Montrose ein Baukran die Silhouette des Gutsgeländes, wo gerade ein neuer Barriquekeller entsteht. Der Platz wird dringend benötigt, denn nur wenige Tage zuvor wurde der fast 20 Millionen Euro teure Ankauf von 21 Hektar von Château Phélan-Ségur protokolliert. Die Gesamtrebfläche umfasst damit stattliche 90 Hektar! Der 2009er Wein von Montrose bleibt seinem Stil als einem der robustesten Rotweine des Médoc absolut treu: Ein langlebiger Klassiker durch und durch.

Ähnlich wie im Jahr 2000 dürfte Château Margaux wieder einmal Primus inter Pares der Premiers Crus im Médoc sein. Dem sonst so besonnenen Gutsdirektor Paul Pontallier entlocken wir gar eine Lobeshymne auf den Jahrgang 2009: „Seit 1982 bin ich nun für Château Margaux verantwortlich, aber noch nie habe ich einen solch vollkommenen Wein im Fass gehabt!“ Ist es gar der Wein des Jahres? Man wird sehen.

Am Freitag geht es schließlich in das Graves-Gebiet, der einzigen Bordelaiser Region, wo es sowohl weiße als auch rote Grands Crus Classés gibt. In beiden Kategorien ragen bei der Union-Verkostung drei Güter heraus: Domaine de Chevalier, Pape-Clément und Smith-Haut-Lafitte, wobei ich in beiden Disziplinen ein Faible für die Weine des Letzteren habe. Während der Rote mit großer Fülle, bestens eingebundenen Tanninen und Extraktsüße punktet, entfaltet der Weiße bei aller Opulenz auch eine erstaunliche Eleganz.

Zum guten Schluss darf ein Besuch auf Château Haut-Brion natürlich nicht fehlen. Da dort im Moment ebenfalls umgebaut wird, findet die diesjährige Verkostung im Schwester-Weingut La Mission Haut-Brion statt. Während die Weinhändler und Sommeliers in einem großen Degustoir im Parterre verkosten, empfängt Direktor Jean-Philippe Delmas, der seit 2004 als Nachfolger seines Vaters Jean-Bernard beide Güter leitet, die Journalisten in einem etwas diskreten Rahmen im ersten Stock. Gewaltige Veränderungen gibt es im Programm von La Mission Haut-Brion und der dazu gehörigen Marken: Der Rotwein des bislang eigenständig firmierenden Château La Tour Haut-Brion ist nun inkorporierter Bestandteil von La Mission und dessen Zweitwein La Chapelle de La Mission. Der weiße Laville Haut-Brion firmiert ab 2009 als La Mission Haut-Brion Blanc, eine Bezeichnung wie sie übrigens bereits bis 1930 gebräuchlich war. Dritte Neuerung ist ein weißer Zweitwein namens La Clarté, in dem nun die aussortierten Mengen von Haut-Brion und La Mission Haut-Brion vermählt werden. Während der süßlich anmutende 2009er Haut-Brion Blanc ein idealer Wein für Powertrinker ist, kommt der Weißwein von La Mission erheblich eleganter daher. Die beiden roten Pendants sind wahnsinnig dicht und komplex. Aufgrund ihrer gewaltigen Tanninstruktur benötigen sie allerdings etliche Jahre bis man sie mit Genuss trinken kann.

Meine neugierige Frage, wie sich die Qualität dieser Ausnahmeweine denn nun auf den zu erwartenden Primeurpreis auswirken wird, bleibt hier ebenso unbeantwortet wie in allen anderen Weingütern rund um die Gironde. Über Preise will in dieser Woche offenbar niemand sprechen.

Eine Prognose sei gewagt: Viele unbekanntere Schlösser, die 2009 ihre besten Weine seit langem erzeugt haben, werden sich mit Preisaufschlägen von maximal zwanzig Prozent gegenüber dem Vorjahr begnügen müssen, womit sie ihren Weinen aber ein äußerst attraktives Preis-Genußverhältnis verleihen. Spätestens zur Vinexpo in Hongkong Ende Mai werden dann die bekannteren Güter versuchen, ihre Kurse zumindest auf das Niveau von 2005 zu hieven. Wirtschaftskrise hin, Wirtschaftskrise her: Bei Kultweinen wie Lafite, Latour oder gar Pétrus sollte sich niemand der Illusion hingeben, auch nur das geringste Schnäppchen zu machen gibt.

Armin Diels Favoriten

Nach der Verkostung von knapp 400 Fassweinen des Jahrgangs 2009 billigt Bordeaux-Experte Armin Diel den folgenden Rotweinen ein optimales Potenzial von 95-100 Punkten zu. Nie zuvor in den letzten 30 Jahren war die Zahl seiner Auserwählten größer!

Saint-Emilion

Château Angélus, Château Ausone, Cheval-Blanc, Château La Mondotte, Château Pavie, Château Pavie-Macquin

Pomerol

Château L´Église-Clinet, Château Pétrus, Château Lafleur, Le Pin, Château Trotanoy, Vieux Château Certan

Graves

Château Haut-Brion, Château La Mission Haut-Brion, Château Smith Haut-Lafitte

Margaux

Château Margaux, Château Palmer, Château Rauzan-Ségla

Saint-Julien

Château Ducru-Beaucaillou, Château Léoville-Las-Cases

Pauillac:

Château Lafite-Rothschild, Château Latour, Château Mouton-Rothschild, Château Pichon-Longueville Comtesse de Lalande

Saint-Estèphe:

Château Cos d´Estournel, Château Montrose

Erstabdruck in FINE Das Weinmagazin 3/2010