Der Jahrgang 1988 ist in Bordeaux der erste von drei aufeinander folgenden Jahrgänge von außerordentlicher Güte. Der Ertrag lag in etwa auf dem Niveau des großartigen Jahrgangs 1982 und damit dreißig Prozent unter denen der beiden Folge-Jahrgänge 1989 und 1990. Im Gegensatz zu dem üppigeren 1989er und dem eleganten 1990er gilt 1988 als der klassischere Bordeaux-Jahrgang, auch weil die Tanninstruktur durchweg herzhafter ausfällt und stilistisch deshalb eher an Bordeaux-Klassiker wie 1966, 1975 und 1986 erinnert.
Aus Furcht vor einer Wiederholung der Regenfälle des desolaten Vorjahres 1987, als die Trauben größtenteils in angefaultem Zustand geerntet wurden, gaben viele Bordeaux-Erzeuger zu früh den Startschuss zur Lese. So wurden insbesondere in der Médoc-Region beträchtliche Mengen von Cabernet-Sauvignon-Trauben recht früh und damit nicht in perfektem Reifezustand geerntet. Aufgrund des guten Säuregehalts und des hohen Anteils an herben Tanninen gibt es allerdings keine seriösen Zweifel am Alterungspotenzial der meisten 1988er Weine. Allerdings sollte man die Geduld haben, zwanzig bis dreißig Jahre darauf zu warten.
In Saint-Emilion und Pomerol wurden die Merlot-Trauben in sehr schönem Reifezustand gelesen, der Zuckergehalt der Cabernet-Franc-Trauben in Saint-Emilion lag sogar deutlich über denen der Vorjahre. Nun hat zwar der reichhaltigere und vollmundigere 1989er zweifellos dem Jahrgang zunächst einmal die Schau gestohlen, aber eine objektive Betrachtung des 1988ers belegt, dass er viele bemerkenswerte Weine hervorgebracht hat, wovon etliche den charmanteren 1989er überleben dürften. Die qualitativ besten Rotweine wurden 1988 in der Graves-Region eingebracht, gefolgt von Saint-Emilion, Pomerol, Saint-Estèphe und Pauillac. Gewinner waren dort vor allem diejenigen Güter, die den Erntebeginn hinauszögerten, wodurch sich die Tannine in den Trauben auf natürliche Weise verminderten. Im Übrigen gilt es zu berücksichtigen, dass der Jahrgang 1988 Weine bot, deren Preise etwa ein Drittel unter denen des Nachfolgejahres 1989 lagen. Seitdem sich die globale Erderwärmung auch im Südwesten Frankreichs breit gemacht hat, sind klassische Bordeaux-Weine à la 1988 rar geworden.
Ganz vorzüglich fielen 1988 die Weine in der Sauternes-Region aus, wo sich die Ernte bis in den November hinzog. Dort gelangen die besten edelsüßen Weißweine, die in einer Reihe mit legendären Jahrhundert-Jahrgängen wie 1937 und 1967 stehen.
Armin Diels Verkostungsnotizen vom 16. November 2019
1988
Château Cantemerle, 5. Grand Cru Classé, Haut-Médoc
Feine Würznoten im Duft, schöne Frucht, gute Tanninstruktur, mittlerer Nachhall.
89 P
1988
Château Talbot, 4. Grand Cru Classé, Saint-Julien
Klassisches Bukett mit leichten Ledernoten und roten Früchten, kraftvoller Wein, gerundete Tannine, herzhafter Nachhall.
90 P
1988
Château Ducru-Beaucaillou, 2. Grand Cru Classé, Saint-Julien
Etwas unklares Bukett, erinnert an Korkgeschmack und feuchten Waldboden, rührt aber von Faßproblemen, ansonsten gute Struktur. Schade!
(89) P
1988
Château Gruaud-Larose, 2. Grand Cru Classé, Saint-Julien
Duftet nach roten Früchten, stoffiger Körper, seidige Eleganz, hat viel Stoff, gutes Entwicklungspotenzial.
93 P
1988
Château Léoville-Barton, 2. Grand Cru Classé, Saint-Julien